Im Diskurs um den Islam und seine problematischen Glaubensinhalte wird immer wieder das Argument angebracht: der Koran würde ja nur falsch interpretiert werden.
Ich bin mir sicher, dass es auf lange Sicht für den überwiegend friedliebenden Teil der islamischen Gesellschaft viel Zielführender wäre, diese Koranstellen fundamental aufzuarbeiten, anstatt sie durch rhetorische Tricks zu vertuschen. Denn es macht die friedliebenden liberalen Muslime letztendlich unbewusst zu Anwälten der Fundamentalisten. Aufgeklärte Nicht-Muslime erkennen dies und die Fronten verhärten sich zwischen gerade den Gruppen, die doch eigentlich gemeinsam die Aufklärung vorantreiben sollten.
Drei Ebenen der Vertuschungstaktik haben sich für mich in Diskussionen rund um den Islam herauskristallisiert.
Erstens, der Vers ist ja nur falsch übersetzt. Im originalen arabischen Text würde in Sure 4.34 nicht die Aufforderung stehen die widerspenstige Frau zu schlagen. In Sure 8.60 würde nicht stehen, dass die Muslime alle Kriegsmacht auffahren sollen um die Feinde Allahs zu terrorisieren.
Wenn diese Verschleierungstaktik nicht mehr gehalten werden kann, weil sich mittlerweile auch arabisch sprachige aufgeklärte Menschen am Diskurs beteiligen und wortgetreuere Übersetzungen erhältlich sind, weicht man aus auf die nächste zweite Ebene. Auf dieser Ebene stellt man sich auf den Standpunkt, dass zwar entsprechende Verse im Koran zu lesen seien, jedoch müsse man den Vers anders interpretieren. Auf diesen Zug sind mit den friedliebenden Muslimen auch einige Nicht-Muslime aufgesprungen, da sie diese Rhetorik als genialen Schachzug entdeckten, den heiligen Text einerseits nicht in Frage stellen zu müssen, und gleichzeitig einen humanen Islam zu kreieren.
Anschließend haben Islam-Kenner und Ex-Muslime begonnen den friedliebenden Anwälten der Fundamentalisten die für die islamische Gelehrtenschaft auch heute noch verbindlichen Koran-Exegesen offenzulegen. Sie haben gezeigt, dass die Koraninterpretationen die von Tunis und Casablanca über Kairo und Damaskus bis hin nach Saudi Arabien und mittlerweile auch in Köln und Berlin gelehrt werden, die Grausamkeit des bloßen koranischen Textes noch weit übersteigt. Denn es zeigt sich, dass es nicht um ein oder zwei problematische Verse geht, sondern dass hinter der Gewalt und dem Faschismus ein System steht. Ich denke, dass dies ein wichtiger Grund dafür ist, das die klassischen anerkannten Exegese Bücher von Al-Razi, Ibn Kather bis Qurtubi und At-Tabary bis heute nicht auf Deutsch erhältlich sind und nur sehr fragmentiert im Englischen. Vor einigen Jahren hatte ich in einem persönlichen Gespräch mit dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime – Nadeem Iljaas – im Rahmen einer offenen Veranstaltung der Universität zu Köln den Vorschlag gemacht, dass doch die anerkannten Koran-Exegesebücher übersetzt werden sollten. Er sagte mir, die Gesellschaft sei dafür noch nicht reif.
Die Anwälte, die der zusätzlichen Problematik durch die Exegese entgegnen wollen, flüchten auf die dritte Ebene, auf der sie den koranischen Text und die offizielle Exegese als fromme islamische Interpretation der Antike zwar anerkennen, sie aber für die heutige Zeit keine Bewandtnis mehr habe. Dass in den großen islamischen Universitäten, wie der Al-Azhar Universität in Kairo und in der gesamten arabisch-islamischen Welt, jedoch gerade diese klassischen Exegesebücher auch heute noch die Grundlage eines authentischen Islamverständnisses bilden, führt natürlich zu einem Dilemma. Um dieses Dilemma zu lösen müssten sich die friedliebenden Muslime offen von der islamischen Gelehrsamkeit der arabischen Welt lösen und sich klar von ihnen distanzieren, um eben nicht mehr Anwälte der Fundamentalisten zu sein, sondern um Anwälte der Freiheit und des friedlichen menschlichen Zusammenlebens zu werden.
Allerding, so glaube ich, verfangen sie sich, sobald sie sich von diesem Dilemma befreit haben, in einem nächsten. Denn die Koranexegese basiert auf den allgemein anerkannten Überlieferungen über das Leben des islamischen Propheten Mohammeds und seiner Gefährten. Mit der Ablehnung der klassischen Interpretationen würden die Muslime also auch die Überlieferungen ihres Religionsgründers leugnen müssen und die Gelehrtenkonsense die sich über die Jahrhunderte gebildet haben zurückweisen. Diesen Mut wünsche ich mir. Strömungen wie die Quraniyoon die sich aus ehemaligen Studenten der Azhar Universität gebildet haben verfolgen genau diese Strategie. Sie leugnen die Authentizität der Prophetenüberlieferungen und können damit den Koran interpretieren wie es ihnen beliebt und wie es gesellschaftstauglich ist. Dieser Zugang zum Islam ist allerdings im Rahmen einer Missionierung von Jugendlichen, die nach einem stark fundamentierten System verlangen, was ihnen Sicherheit in der Ableitung von Gut und Böse bietet, nicht geeignet. Meine persönliche Erfahrung zeigt, dass Jugendliche aus liberalen islamischen Haushalten ihre Eltern zurechtweisen, dass sich doch die Schwester verschleiern solle, denn die Prophetenüberlieferungen und anerkannten Exegeten, würden den mehrdeutigen Koranvers in Sure 24:31 konkretisieren.
All diese Strategien, führen immer mehr zur Verhärtung der Fronten. Dies wird noch dadurch negativ begünstigt, dass im klassischen sunnitischen und auch schiitischen Islamverständnis die Lüge und Irreführung zum Schutz der eigenen Person und der Religion ein legitimes Mittel ist. Dies ist in der Scharia bekannt unter den Begriffen Al-Taqiyya und Al-Ma3areedd. Den friedliebenden Muslimen wird Komplizenschaft mit den Fundamentalisten unterstellt, denn sie würden doch die gleichen Ziele verfolgen und die gleiche Abwertung allem nicht-islamischen Gegenüber in ihren Herzen tragen wie die Fundamentalisten. Allerding würden sie dies nicht offen zugeben, sondern dies über die Lüge und Verschleierung solange verheimlichen bis sie genug Macht in Händen hielten, um sich nicht mehr schützen zu müssen und schließlich ihr wahres Gesicht zeigen können.
Ich glaube jedoch, dass sich der Großteil der friedlichen Muslime wirklich und wahrhaftig Friede, Harmonie zwischen den Kulturen und Menschenrechte wünschen.
Wenn ich vorhin von ihnen als Anwälten der Fundamentalisten sprach, dann in dem Sinne, dass sie unbewusst dem Fundamentalismus den Rücken stärken, wenn sie die Gottgegebenheit des Korans nicht offen in Frage stellen und die problematischen Verse nicht offen und fundamental aufarbeiten.
Ich bin überzeugt, dass der einzige Weg die genannten Dilemmata zu umschiffen eine offene Konfrontation und Aufarbeitung der heiligen Schriften ist. Es muss eine Entmystifizierung der heiligen Schriften in dem Sinne stattfinden, dass erkannt wird, dass der heilige Text des Korans nicht von Gott her gedacht werden darf, sondern aus einer Gesellschaft herausgewachsen ist, die ihre Probleme und Vorstellungen und vielleicht auch ihre ganz persönlichen geistigen Erfahrungen auf ihre Art und Weise bearbeitet hat. Dieser geschichtswissenschaftliche Zugang zum Islam und die Loslösung von der Phantasie einer örtlich und zeitlich allgemeingültigen Gottesbotschaft, gibt den Gläubigen die Freiheit nützliche Weisheiten zu übernehmen und kritische Punkte hinter sich zu lassen.